Streckenmässig gab es nun keine Überraschungen mehr. Auf dieser Etappe kannte ich jeden Meter. Mittagsrast im Anblick des Bodensees weckte erste Heimatgefühle, der Blick an den Himmel beunruhigte eher, da die dunkelsten Wolken da waren, wo ich hinfahren wollte.
Als ich die Schweizer Grenze in Sichtweite hatte, ereilte mich der nächste Platten. Ich beschloss, wenigsten noch bis auf Schweizer Boden zu fahren.
Regen und Platten hatten ein gutes Timing. Unter einem mächtigen Dach war ich sowohl im Trockenen als auch an einem geeigneten Platz für die Reparatur.
Danach hielt ich noch zweimal an, um mich vor einem heftigeren Regenguss zu schützen; Zeit hatte ich ja jetzt genug.
So blieb ich bis 10 km vor dem Ziel einigermassen trocken. Der letzte Regenguss auf Zürcher Boden war mir dann egal. Um 17 Uhr erreichte ich das Ziel. Nach 16 Tagen und 2’349 km an die Ostsee und zurück stieg ich da wieder vom Rad, wo ich gestartet war.
Nun war ich wieder an meiner geliebten Donau, deren Oberlauf schon oft Teil meiner Radtouren war, und dachte, bis nach Hause ein Heimspiel zu haben. Jetzt sollte ja alles ganz einfach sein: Bis zum nächsten Etappenort musste ich nur der Donau folgen. Trotzdem schaffte ich es bereits in Donauwörth, dem falschen Fluss zu folgen, der Wörnitz, welche unter der Stadt in die Donau mündet. Erst nach einigen Kilometern realisierte ich, dass ich ungefähr dahin fuhr, wo ich gestern hergekommen war…
Aber auch als ich die Donau wieder gefunden hatte, war die Streckenfindung nicht immer einfach, denn der Donau-Radweg führt überhaupt nicht durchgehend dem Fluss entlang. Auch wenn ich ab Ehingen definitiv in bekanntes Gebiet gelangte, zogen sich die 186 km bis Mengen noch ordentlich in die Länge. Ich freute mich, dass dies die letzte Nacht in einem fremden Bett sein würde.
Der Main-Donau-Kanal war auch am nächsten Tag bis Nürnberg und durch Nürnberg hindurch mein Reiseweg.
Ab Nürnberg wurde der Rest der Strecke zu einem Leiden. Da ich – um Hauptstrassen zu vermeiden – von der gespeicherten Route abwich, irrte ich immer wieder mal herum und musste unnötige kräfteraubende Anstiege bewältigen. Beim Mittagshalt etwas ausserhalb von Nürnberg fasste ich meinen ersten Plattfuss auf dieser Tour. Ich versuchte es zunächst mit Pumpen – die Luft schien zu halten.
Leider schien das Loch im Schlauch grösser zu werden. Am Ende hielt Pumpen kaum mehr einen ganzen Kilometer, aber ich hatte keine Lust, als es schon eindunkelte, an diesem Rad den Schlauch zu wechseln, an dem ich es noch nie gemacht hatte. Abends um 22 Uhr erreichte ich Donauwörth und durfte in der ungewöhnlichsten Unterkunft übernachten, die ich je angetroffen hatte. In aller Ruhe konnte ich hier meine Panne beheben und war froh, es erst hier zu machen, denn ich schaffte es kaum, diesen neuen Pneu von der Felge zu bringen.
Der nächste Morgen begann verregnet. Im Hotel konnte ich mich in Ruhe und unkomliziert rundum auf Regen ausrüsten. Belohnt wurde ich dafür mit einer schöne Abfahrt wieder aus dem Thüringer Wald hinaus.
Diesmal nicht zu übersehen war der Übergang zwischen Ost und West.
Die ganze Strecke bis nach Forchheim war sehr gemütlich, alles Radweg, ab Bamberg entlang dem Main-Donau-Kanal.
Ich übernachtete in Forchheim, das ich von einer Hochzeit im Jahr zuvor schon kannte.
Die Gegend wurde definitiv wieder hügeliger und führte gleich zu Beginn über zwei Bergrücken, leider zunächst eine beträchtliche Strecke über die Hauptstrasse.
So freute ich mich, dem sehr romantischen Unstrut-Werra-Radweg zu begegnen. Nur leider deckten sich solche Radwege immer nur kurze Zeit mit meiner Fahrtrichtung und bogen bald wieder irgendwohin ab.
Die Aussicht von den Hügeln Thüringens war grandios.
Unten in der Ebene gab es wieder einen genussvollen Radweg mitten durch das Naturschutzgebiet Haßlebener Ried.
Nach Erfurt stieg die Strecke allmählich an Richtung Thüringer Wald.
Im ersten grösseren Anstieg in die Berge des Thüringer Walds hinein verfinsterte sich der Himmel bedrohlich.
Kurz vor Ilmenau geriet ich voll ins Gewitter und musste mich für eine Weile notfallmässig unterstellen.
Der weitere Aufstieg machte mir bewusst, wie schnell man sich ungeschützt fühlt, sobald die guten Verhältnisse vorbei sind. Der Thüringer Wald ist sozusagen der Schwarzwald des Ostens. Eine langgezogene Bergstrasse führte durch den Wald hoch hinauf, das war ich mich nach den letzten Tagen nicht mehr gewohnt, ebenso wenig wie frierende Finger im Sommer. Zum Glück zeigte sich im letzten Abschnitt die Sonne nochmals von ihrer versöhnlichen Seite, während ich auf einer sehr romantischen Nebenstrecke die letzten Höhenmeter erklomm.
Mein Ziel lag ganz oben: Der Kurort Frauenwald, der sich in nichts von einem Schwarzwald-Dorf unterscheidet. Von meinem Zimmer aus hatte ich einen herrlichen Ausblick über das Waldgebirge.
Die Route führte über eine Fähre, das war mir gar nicht bewusst, bis ich nach einigen km durch einen einsamen Wald vor einer Fähranlegestelle stand. Dummerweise war zu der Zeit wegen Niedrigpegel von etlichen Fährverbindungen nur noch eine einzige in Betrieb. Also blieb mir nichts anderes übrig, als wieder zurück nach Steckby und von dort weiter südwärts bis zur nächsten Fähre zu fahren.
Leider blieb es an diesem Tag nicht bei diesem einen Unweg…
Die Reise führte weiter durch die Ebene des Südlichen Anhalts.
In der Nähe des Harzgebirges tauchten die stummen Zeugen aus der Zeit der Kohleförderung auf.
Wunderschönes Abendlicht half über die Müdigkeit und die Länge der Fahrt entlang des Südharzabhangs Richtung Nordhausen hinweg.
Recht spät erst erreichte ich die nette Privatpension.
Dadurch, dass ich mit Pritzwalk nach kürzerer Strecke als geplant übernachtet hatte, ergab sich für den nächsten Tag nochmals eine grenzwertig lange Etappe, aber durch sehr schönes Gebiet. Ein Teil davon auf dem Elbe-Radweg.
Der Weiler Steckby ist vergleichbar mit Trittelwitz. Er versteckt sich zwischen Magdeburg und Dessau-Roßlau irgendwo im weiten Grün entlang der Elbe. Gemütliches Zimmer in der Pension zum Biber.
Vor der Abfahrt stattete ich dem Fluss, der etwas unterhalb der Siedlung lag, einen kurzen Besuch ab.
Die Peene wird wegen ihrer üppigen Vegetation von den Einheimischen gerne mit Stolz „Amazonas des Nordens“ genannt. Kein Wunder, dass es hier so schön ist, denn ich bin wieder in einer „Schweiz“ angelangt, diesmal der Mecklenburgischen Schweiz.
Für den nächsten Abend hatte die Reservation einer Unterkunft nicht geklappt. Eigentlich hätte ich in Havelberg übernachten wollen, wo die Havel in die Elbe mündet. So suchte ich mir statt dessen die nächste grössere Stadt und dachte, dass ich da problemlos ein Hotel finden würde. So steuerte ich Pritzwalk an.
Nachdem ich 4 Hotels ausfindig gemacht hatte, was schon nicht ganz einfach war, stellte ich fest: Das erste öffnete nur für Hochzeiten und andere Feiern, das zweite gar nicht. Im Vierten schliesslich wurde ich als einziger Gast immerhin geduldet.
Das ist die perspektivenlose Situation in manchen Gegenden Ostdeutschlands, sobald man sich ausserhalb der prosperierenden Zentren wie Leipzig, Berlin, Dresden oder den touristischen Hotspots bewegt. Und sie gibt eine Erklärung für manche gegenwärtigen politischen Tendenzen.
Heute wäre der Tag gewesen, an dem ich mein Ziel erreichen sollte, aber die Ostsee wollte mich nicht haben! Ich beabsichtigte nach Anklam zu fahren, dort auf Usedom überzusetzen und auf Usedom der Küste entlang zu fahren. Um dem Tourismus zu entgehen, war meine nächste Unterkunft aber bereits wieder im Landesinneren vorgesehen, in Trittelwitz, einer Handvoll Häuser an der Peene. Die Fahrt durchs Naturschutzgebiet Richtung Anklam war wunderschön.
Die Fähre fuhr nicht und die Abzweigung für Velos nach Usedom verpasste ich. Ich sah nur den Beginn einer für Velos verbotenen Autostrasse. Das Navi leitete mich in die Irre. Nach einiger Zeit merkte ich, dass es mich vom Meer weg in die Richtung der nächsten Unterkunft führte. Ich war frustriert.
Sollte ich nach all den Strapazen mein eigentliches Ziel verfehlen? Und wusste doch gleichzeitig, dass ich am Abend in Trittelwitz sein sollte. Mit einem Blick auf die Karte kam ich zum Schluss, dass ich von der jetzigen Position aus und im Hinblick auf mein Tagesziel am schmerzlosesten ans Meer käme, wenn ich nach Greifswald fahren würde. So raste ich mit gesenktem Kopf, über eine weite Strecke auf einer meist schnurgeraden hässlichen Hauptstrasse Greifswald entgegen, während sich der Himmel zunehmend verdunkelte. Dummerweise liegt aber Greifswald selber gar nicht am Meer.
Die nächste Herausforderung war der Entscheid, auf welchem Weg ich am schnellsten von dort ans Meer käme. Ich geriet zunehmend unter Zeitdruck. So erreichte ich schliesslich die Küste am wohl unromantischsten Ort, den man sich aussuchen konnte, sass auf einer Parkbank auf dem Scheitel eines Damms neben einem Industriedock, sah vorne kurz aufs Meer und hinten beunruhigt auf dunkle Wolken. Irgendwie konnte ich es kaum geniessen, das Ziel erreicht zu haben, und war in Gedanken sorgenvoll schon wieder auf dem Rückweg…
So hatte ich mir die Inszenierung der Ostsee nicht vorgestellt!
Die Weiterfahrt war ein hässliches Rennen gegen die Zeit, gegen den Autoverkehr und gegen ein drohendes Unwetter, belohnte mich aber am Ende mit einem kleinen Paradies in jeder Hinsicht. Die Unterkunft ein Bijou (jedes Zimmer war in einer anderen Farbe liebevoll durchgestylet, meins in Rot), die Gatfreundschaft maximal, das Wetter unterdessen wieder heiter.
Das Tüpfchen aufs -i- war, dass just an diesem Abend im Restaurantgarten ein Livekonzert gegeben wurde. Ich sass mit Dorfbewohnern im Pensionsalter zusammen an einem Tisch und erfuhr dadurch zwischen den musikalischen Darbietungen auch ganz viel darüber, wie die Volksseele in dieser Gegend tickt.